Eine strategische Meisterleistung von Carlos Sainz, Red Bull in Schwierigkeiten und ein dramatischer Endspurt. Es war unheimlich viel geboten beim großen Preis von Singapur 2023. Wer die Gewinner und Verlierer des Wochenendes sind und wo die Gründe für das vermutlich spannendste Rennen der Saison liegen erforschen wir in diesem Blog-Beitrag!
Es würde nicht einfach werden – da waren sich Max Verstappen und im Prinzip alle Führungsfiguren bei Red Bull sicher – die unglaubliche Siegesserie auch in Singapur fortzuführen. Im Kopf hatten sie dabei vermutlich den stets unvorhersehbaren Rennverlauf in Singapur. Es gab bisher in jedem Rennen mindestens eine Safety-Car-Phase – die Mauern stehen auf einem Stadtkurs schließlich immer nah am Fahrbahnrand. Vielleicht hatten die Kollegen auch mit Problemen bei der Zuverlässigkeit gerechnet oder einem verregneten Grand Prix. Das schwül-heiße Klima in Singapur macht außerdem nicht nur den Maschinen zu schaffen, sondern auch manch einem Piloten. Gemeinhin gilt das Singapur-Rennen als das härteste im gesamten Kalender.
Womit Horner & Co. vermutlich nicht kalkuliert haben war, dass der RB19 einfach zu langsam sein würde. Jener RB19, der dominant bisher jedes Rennen der Saison gewonnen hat und dabei immer unantastbar schien. Eine Mischung aus drei Faktoren hat dennoch dazu geführt, dass Red Bull einfach nicht auf Tempo kam an diesem Wochenende: einerseits brachte das Team einige Updates ans Auto, die offenbar nicht funktioniert haben. Hastig baute man von Freitag auf Samstag den neuen Unterboden aus und eine alte Spezifikation wieder ein – kein gutes Zeichen. Zudem verspekulierte sich die Mannschaft beim Setup und konnte den RB19 zu keinem Zeitpunkt optimal auf die Strecke einstellen. Drittens trat am Singapur-Wochenende erstmals eine technische Direktive in Kraft, die einige Schlupflöcher beim Thema „Flexi-Flügel“ und Tricksereien beim Unterboden unterbinden soll. Dass der Leistungsabfall von Red Bull damit zusammenhängt wäre zwar naheliegend, ist aber nicht gesichert. Einerseits sind sich alle Experten einig, dass man die Effekte dieser technischen Direktive auf einem Stadtkurs wie Singapur wenig bis gar nicht merken würde und mindestens bis Suzuka warten muss, um ein klares Bild zu bekommen. Andererseits betonte Christian Horner bei jeder Gelegenheit, dass die technische Direktive leider nicht als Ausrede für den Leistungsabfall herhalten kann, denn es hat sich exakt kein einziges Bauteil am Red Bull geändert. Fakt ist: Max Verstappen fehlten im Q2 sieben Zehntel auf den Schnellsten. Das sind Welten in der Formel 1. Aber der Reihe nach.
Godzilla-Babies!
Die Trainings-Sessions am Freitag waren geprägt von zahlreichen Unterbrechungen der besonderen Art. Wie in der Vergangenheit bereits vereinzelt in Singapur zu sehen, bahnte sich die ein oder andere ziemlich große Eidechse ihren Weg auf die Strecke. Ein ziemlich bizarrer Anblick, der mehrfach dafür sorgte, dass der Fahrbetrieb kurzzeitig zum Erliegen kam. Einige Scherze über Godzilla und dessen Nachkommen am Boxenfunk lockerten die ansonsten sehr konzentrierte Arbeit der Mannschaften am Freitag etwas auf. Es galt immerhin sich auf eines der schwierigsten Rennen des Jahres vorzubereiten. Ein optimales Setup zu treffen ist in Singapur nie einfach, auch wenn es im Prinzip vorrangig auf maximalen Abtrieb ankommt. Aber es gibt etliche Stellen, wo die Fahrer mehr oder weniger wild über Randsteine brettern. Das mögen die Ground-Effect-Boliden der aktuellen Generation aber überhaupt nicht. Der Bodenabstand war also ein zentrales Thema bei der Abstimmung und gerade da tat sich ausgerechnet Red Bull schwer.
Die Weltmeistertruppe hatte einige neue Bauteile für den RB19 nach Singapur mitgebracht und am Freitag ausgiebig getestet. Aber offenbar brachten die Upgrades nicht den gewünschten Effekt und wurden bis Samstag weitestgehend wieder verbannt. Um den zahlreichen Bodenwellen auf dem Stadtkurs in Singapur Herr zu werden, musste das Team den RB19 mit einer ungewöhnlich hohen Bodenfreiheit betreiben. Das sorgte dafür, dass die ausgeklügelte Aerodynamik nicht mehr wie gewohnt funktionierte, was dann wiederum Konsequenzen für die Reifentemperatur und den allgemeinen Grip hatte. Die Abstimmung eines Formel-1-Autos ist eine ungeheuer komplexe Angelegenheit und gelegentlich greift auch ein Team aus Vollprofis mit den besten Simulationswerkzeugen der Welt mal daneben. Die Fans und die Formel 1 insgesamt bedankt sich artig, denn so konnten alle ein unglaublich spannendes und enges Rennen bewundern, das wir in dieser Form schon lange nicht mehr erlebt haben. Aber vor dem Rennen galt es ja noch ein Qualifying zu fahren. Auch dort ging es rund und es hagelte Überraschungen.
Stroll mit dem Knall
Aston Martin erlebte insgesamt ein schwieriges Wochenende. Die Probleme begannen nicht erst mit dem heftigen Unfall von Lance Stroll am Ende von Q1. Für den Kanadier läuft er zur Zeit ohnehin sehr mäßig in der Formel und auch zum Zeitpunkt seines heftigen Einschlags lag er am Ende des Tableaus und wollte sich mit seiner letzten Runde natürlich noch verbessern. Dabei riskierte er vermutlich etwas zu viel, bereits vor der letzten Kurve konnte man sehr deutlich sehen, wie Stroll mit seinem Boliden zu kämpfen hatte. Trotzdem riskierte er in der letzten Kurve alles, kam etwas zu weit nach außen auf den Randstein und verlor die Kontrolle über seinen Aston Martin. Der Aufprall frontal in die – glücklicherweise vorbildlich geschützte – Mauer sah schlimm aus. Nach einigen bangen Sekunden meldete Stroll aber aus dem Cockpit, dass er „okay“ sei. Puh, das hätte auch übel enden können… die Session wurde natürlich unterbrochen um den havarierten Wagen sauber bergen zu können und einige Piloten, die noch auf einer schnellen Runde gewesen waren, konnten diese nicht zu Ende fahren. Oscar Piastri beispielsweise, der folglich bereits in Q1 die Segel streichen und am Sonntag von Rang 17 ins Rennen gehen musste.
Die große Sensation sollte aber in Q2 folgen. Wie groß die Probleme bei Red Bull wirklich waren konnte niemand so wirklich einschätzen. Dass sich zumindest Verstappen weit vorne qualifizieren würde hat sicher fast jeder irgendwie angenommen. Ein so überlegenes Auto kann plötzlich nicht so schlecht sein, oder? Nunja… es konnte… Gerade Max Verstappen war zudem scheinbar so mit den Problemen an seinem Dienstwagen beschäftigt, dass er mehrfach anderen Fahrern im Weg rumkurvte. Das wird für gewöhnlich auch von den Rennkommissaren mit einer Strafe geahndet. Um diese kam der Weltmeister irgendwie herum, nicht aber um die Schwierigkeiten, die ihm sein RB an diesem Quali-Samstag machte. Kurioserweise war es am Ende ausgerechnet Aushilfsfahrer Liam Lawson vom Schwesterteam Alpha Tauri, der Max Verstappen um die Winzigkeit von 0.007 Sekunden aus den Top 10 verdrängte. Verstappen also nur auf Platz 11, Perez gar nur auf der 13. Im Q3 hingegen beide Ferrari, beide Mercedes, Lando Norris im rundum erneuerten McLaren, Fernando Alonso, beide Haas (!!!), Esteban Ocon und eben der Alpha Tauri von Liam Lawson. Damit hätte vor dem Wochenende wohl kaum jemand gerechnet…
Es war also klar, dass in Singapur zum zweiten mal hintereinander kein Red Bull auf der Pole stehen würde. Aber wer dann? Berechtigte Hoffnungen konnten sich im Prinzip beide Ferrari und Mercedes machen. Dazu Norris im McLaren. Am Ende trennten 0.079 Sekunden die schnellsten drei Fahrer, es war also einmal mehr unfassbar knapp. Die besten Nerven behielt, wie bereits in Monza, Carlos Sainz im Ferrari. Eine großartige Leistung des Spaniers, dem George Russell im Mercedes im Nacken saß und nah dran war an einer ersten Mercedes-Pole in der Saison 2023. Einen Hauch langsamer war der zweite Ferrari von Charles Leclerc, mit etwas größerem Abstand folgten Lando Norris auf P4 (+0,286s) und Lewis Hamilton auf P5 (+0,501s). Dahinter schon Magnussen vor Alonso, Ocon, Hülkenberg und Lawson. Was für eine großartige Ausgangslage für den Grand Prix!
Sainz der Stratege
Den großen Preis von Singapur 2023 kann man im Großen und Ganzen in drei Abschnitte gliedern. Carlos Sainz im Ferrari kontrollierte jeden davon, wenn auch sehr, sehr knapp. Der Start verlief weitgehend zivilisiert und ohne größere Vorfälle. Lediglich Lewis Hamilton verpasste die erste Kurvenkombination und schoss neben der Fahrbahn vorbei an zwei Kontrahenten. Um eine Strafe zu vermeiden musste er die beiden Plätze wieder an Russell und Norris zurückgeben, was er auch tat. Wenngleich mit ein paar Runden Verzögerung. Beide Red Bull wagten strategisch eine Alternative zum Rest des Feldes. Während die Spitze komplett auf Medium gestartet war, ließen Verstappen und Perez harte Reifen aufziehen und wollten möglichst lange fahren, um von einem späten Safety Car zu profitieren. An sich keine schlechte Idee, aber natürlich hat niemand unter Kontrolle ob und wann auf einem Stadtkurs etwas passiert, das ein Safety Car verursachen kann. Als Logan Sargeant dann in Runde 20 die Mauer berührt und mit einem abgerissenen Frontflügel unter seinem Williams um die Strecke gefahren war, konnte die Rennleitung nicht anders entscheiden und musste eine Safety-Car-Phase ausrufen, um die Carbonsplitter aufzuräumen, die Sargeant großzügig verteilt hatte.
Ein Safety Car zur Unzeit für Red Bull. Es kam zu früh um selbst auf Medium zu wechseln. Mit dem Reifen würden Verstappen und Perez unmöglich bis zum Ende durchfahren können und müssten auf eine (in der Theorie deutlich langsamere) 2-Stopp-Strategie umschwenken. Es spielte aber allen Piloten perfekt in die Karten, die auf Mediums losgefahren waren. Allesamt kamen an die Box, ließen sich harte Walzen montieren und wollten damit bis zum Ende des Rennens durchhalten. Die Red Bull blieben draußen. Das spülte sie zwar auf Anhieb ein paar Plätze nach vorne, war strategisch aber über das ganze Rennen gesehen nicht optimal. Die Gelegenheit für einen schnellen Stopp war für die meisten Teams übrigens so günstig, dass einige beide Autos gleichzeitig reingeholt und einen double stack pit stop praktiziert haben. Wer sich fragt was das genau bedeutet, dem sei unser Instragram-Kanal empfohlen (einfach nach @imkreisfahren suchen!). Dort erklären wir in unserer festen Rubrik „was bedeutet eigentlich…?!“ solche Fachbegriffe aus der Welt des Motorsports und der Formel 1.
Vom Start weg fuhr Carlos Sainz ein meisterhaftes Rennen. Er kontrollierte das Tempo an der Spitze, schonte dabei seine Reifen, sorgte aber zu jeder Zeit dafür, dass ihm niemand wirklich nahe genug kommen konnte, um ein Überholmanöver zu wagen. Ein Drahtseilakt, der enorme Disziplin und Übersicht erfordert. Ein Nebeneffekt dieser Fahrweise war auch, dass das komplette Feld lange Zeit sehr eng beisammen lag. Das machte für alle Piloten einen möglichen Undercut sehr unattraktiv. Wer auch immer in so einer Situation an die Box kommen würde, würde unheimlich viele Plätze verlieren. Und „track position“ ist auf einem Stadtkurs immer enorm wichtig. All das wusste Carlos Sainz natürlich und hatte sich diese Strategie sicher in der Form zurechtgelegt. Hilfreich dabei war, dass sein Teamkollege Charles Leclerc als einziger Pilot an der Spitze auf weichen Pneus losgefahren war. Das erlaubte ihm einen Raketenstart und einen Positionsgewinn gegen George Russell. So konnte Leclerc seinen Teamkollegen nach hinten optimal abschirmen. Ferrari also plötzlich als Strategie-Chefs? Ja, das könnte man so sagen. Zumindest hatte Sainz wirklich Ahnung davon, was er da aufführte und einen konkreten Plan. Das sollte gegen Ende des Rennens noch beeindruckend deutlicher werden.
Mittendrin statt nur dabei
Während der stressreichen Boxenstopp-Phase passierte Fernando Alonso übrigens ein bizarrer Fehler. Der Spanier, der in Runde 26 des Rennens übrigens seinen 100.000sten Rennkilometer fuhr, geriet mit einem Aston Martin bei der Anfahrt zur Box über den kleinen Randstein und zurück auf die Rennstrecke. Er verlangsamte und bog dann wieder zurück in die Boxeneinfahrt ab. Glasklar aber trotzdem: das würde eine Strafe nach sich ziehen. Es lief irgendwie auch gar nichts zusammen bei Aston Martin an diesem Wochenende.
Im Mittelteil des Rennens verloren beide Red-Bull-Fahrer dann auch wieder reichlich Plätze. Während die meisten anderen Kontrahenten nun auf frischen harten Reifen unterwegs waren, die bis zum Ende des Rennens durchhalten sollten, quälten sich Perez und Verstappen mit gebrauchten und abgekühlten Pneus der harten Sorte und bekamen diese nur sehr zögerlich wieder auf Temperatur. Folglich mussten die beiden einen Piloten nach dem anderen ziehen lassen und schienen komplett raus aus dem Kampf um die Spitze. Dort stellten sich im Prinzip alle auf eine lange Prozession bis ins Ziel ein. Zu kompromisslos kontrollierte Carlos Sainz das Geschehen und machte den Eindruck, dass er das Ding eiskalt und fehlerfrei nach Hause fahren würde.
Währenddessen ging es im Mittelfeld heiß zur Sache. Sergio Perez wehrte sich aus den genannten Gründen nach Kräften, hatte aber beim Kampf mit stumpfen Waffen so eine Schwierigkeiten. Als sich in Runde 37 Fernando Alonso dran machte den Red Bull hinter sich zu lassen, entbrannte ein sehenswerter Dreikampf, denn von hinten kam auch Esteban Ocon angerauscht und wollte den lachenden Dritten markieren. Nach einem missglückten Versuch von Alonso musste dieser sich plötzlich gegen Ocon verteidigen und der Franzose zeigte seine ganze Klasse, passierte den zweifachen Weltmeister und kurz darauf auch Sergio Perez. Über das ganze Wochenende bot Ocon schon eine sehr gute Leistung und krönte sie beim Rennen an seinem Geburtstag mit diesem tollen Manöver. Aber ein Happy End war ihm leider nicht vergönnt. In Runde 42 blieb er plötzlich ausgangs der Boxengasse stehen. Ein Getriebeschaden vermieste dem Franzosen zwar seinen Geburtstag, für alle anderen Fans war es aber ein riesiges Geschenk! Die Rennleitung rief zur sicheren Bergung des havarierten Alpine ein virtuelles Safety Car aus und dieses ebnete den Weg zu einem Endspurt, der sich gewaschen hatte!
Fulminantes Finale!
Dass Perez in Runde 39 und Verstappen in Runde 40 ihren einzigen Boxenstopp des Rennens absolviert hatten, war einmal mehr bezeichnend für das große Pech, das für die Red Bulls zum eigenen Unvermögen dazukam. Hätten beide Piloten in der VSC-Phase stoppen können, hätten sie deutlich weniger Zeit verloren und hätten am Ende weiter vorne landen können. Zudem die Pace von Verstappen im letzten Renndrittel auf den Medium-Reifen immens war! Hatte der Niederländer direkt nach seinem Boxenstopp noch rund 40 Sekunden Rückstand auf die Spitze, waren es im Ziel nur noch 21,4 Sekunden. Er fuhr im Schnitt also rund eine Sekunde pro Runde schneller als Sainz ganz vorne. Aber hätte, wäre und wenn zählen in der Formel 1 nichts.
Ein besseres Timing bewiesen die Mercedes-Strategen. Während Sainz, Norris und Leclerc die Einladung zu einem günstigen Boxenstopp unter VSC-Bedingungen nicht angenommen hatten, setzten die Mercedes-Piloten beide alles auf eine Karte und auf die Chance zum Sieg. Mit einem möglichen Podium wollten sich weder George Russell noch Lewis Hamilton zufrieden geben. Und beide hatten als einzige im Feld noch einen frischen Satz Mediums in der Hinterhand, die sie für die letzten rund 20 Runden bestmöglich nutzen wollten. In Runde 44 gab es also den zweiten sauberen double stack Boxenstopp bei Mercedes und fortan hieß es: Vollgas! Mit Siebenmeilenstiefeln flogen die schwarzen Silberpfeile um den Marina Bay Street Circuit und jagten die drei Fahrer an der Spitze.
Auch Fernando Alonso stoppte nochmals während der VSC-Phase und wollte – an sich sehr clever – seine 5-Sekunden-Strafe absitzen und mit frischen Reifen nochmal angreifen. Der Stopp ging aber völlig in die Hose, dauerte eine halbe Ewigkeit und kostete Alonso nicht nur sehr viel Zeit und einige Positionen, sondern vermutlich auch den letzten Nerv. Wenig später gurkte der grüne Aston Martin dann noch in einer Auslaufzone herum, denn Alonso hatte sich verbremst. Am Ende wurde der Spanier als letzter Pilot gewertet. Zudem verlor er in der Fahrerwertung zum ersten mal in dieser Saison den dritten Platz. Es war wirklich nicht das Wochenende der Aston Martin in Singapur.
Ein Genie am Werk
Die Mercedes-Piloten erreichten in Runde 53 (Russell) respektive 54 (Hamilton) das Heck des hilflosen Charles Leclerc, dem schon rund zehn Runden vor der Zielflagge die Reifen eingegangen waren. Beide Mercedes machten mit dem Monegassen kurzen Prozess und zogen spielend vorbei am Ferrari. Zu diesem Zeitpunkt fehlten Russell weniger als sieben Sekunden auf den McLaren von Lando Norris. In diesem Tempo und mit dem großen Vorteil der wesentlich frischeren und weicheren Reifen schien der Sieg absolut in Reichweite. Das ganze Rennen über war George Russell auch total fokussiert darauf den Grand Prix zu gewinnen. Immer wieder erkundigte er sich am Boxenfunk, was er noch tun kann, um ganz nach vorne zu kommen. Sehr entschlossen und konzentriert fuhr der junge Brite also einem möglichen Triumph entgegen.
Als die Mercedes wenige Runden vor Rennende auf Lando Norris aufgeschlossen hatten, zog Carlos Sainz das letzte Ass aus dem Ärmel seines Ferrari-Overalls. Er hielt Lando Norris hinter sich ganz bewusst im DRS-Fenster, um dem McLaren-Piloten bei der Verteidigung gegen Russell zu helfen. Das wurde spätestens klar, als in Runde 59 der Boxenfunk von der Ferrari-Boxenmauer zu Sainz drang, dass Norris nur 0.8 Sekunden hinter ihm fährt und im DRS-Fenster ist. Sainz antwortete ganz cool: „Ich weiß. Das ist Absicht.“ Wir müssen uns vor Augen halten: Damit riskierte Sainz natürlich auch selbst potentiell von Norris überholt zu werden. Der winzigste Fehler oder Quersteher und die gesamte Arbeit des Rennwochenendes wäre dahin. Zugegebenermaßen wäre sie aber auch dahin, wenn die Mercedes mit Norris leichtes Spiel gehabt hätten. Wie Charles Leclerc also im ersten Renndrittel als Puffer nach hinten für Sainz fungierte, so tat dies in den letzten Runden Lando Norris. Irre Strategie, aber sie sollte sich auszahlen.
Um die ganze Arbeit des Rennwochenendes brachte sich nämlich leider ein anderer: In der allerletzten Runde ging mit George Russell vielleicht das Adrenalin durch, womöglich war er auch einfach nur erschöpft nach einem langen, heißen Rennen. Vielleicht spielte auch der Frust mit rein, dass es an Lando Norris einfach kein Vorbeikommen gab, DRS von Sainz sei Dank. Jedenfalls platzierte Russell seinen Mercedes bei der Zufahrt auf Kurve zehn ein, zwei Zentimeter zu weit rechts und streifte minimal die Mauer. Und der Stadtkurs in Singapur biss zu. Russell beschädigte sich durch diesen winzigen Fehler das Auto und schoss geradeaus in die Mauer. Aus und vorbei. Statt einem möglichen Sieg oder einem sicheren Podium gab es null Punkte. Russell war nach dem Rennen untröstlich und völlig am Ende. Der unnötige Fehler ärgerte ihn maßlos, aber so grausam kann die Formel 1 eben auch sein. Lewis Hamilton profitierte und staubte einen Podiumsplatz ab. Vorne blieb es aber beim Sieg von Carlos Sainz vor Lando Norris. Was für ein irres Finale!
Nicht alle Helden fahren vorne
Neben den offensichtlichten Akteuren an der Spitze, gab es in Singapur noch weitere Piloten, denen ich gerne ein paar Worte widmen möchte. Pierre Gasly fuhr z.B. ein unauffälliges, aber an sich hervorragendes Rennen. Von Platz zwölf nach der Qualifikation, arbeitete sich der Franzose auf Rang sechs im Rennen vor. Damit holte er einige Punkte und ein positives Resultat, das die Mannschaft nach dem Fiasko in Monza dringend nötig hatte. Wäre Esteban Ocon nicht mit einem Defekt ausgefallen, hätte es eine gute Punkteausbeute für Alpine werden können. Aber hätte, wäre, wenn… das hatten wir vorhin schon.
Auch Oscar Piastri fuhr ein bemerkenswertes Rennen. Im Gegensatz zu Lando Norris hatte der junge Australier nicht die letzten Ausbaustufe des McLaren zur Verfügung. Dennoch fuhr er mit dem alten Papaya-Renner ein großartiges Rennen und machte insgesamt zehn Positionen gut. Bedingt durch den Stroll-Unfall im Quali musste Oscar Piastri bekanntlich von Rang 17 ins Rennen gehen. Er kam auf Platz sieben ins Ziel und hielt damit noch Sergio Perez hinter sich – einmal mehr eine makellose Leistung. Kein Wunder, dass McLaren dem sympathischen Fahrer einen neuen Vertrag angeboten und langfristig ans Team gebunden hat. Piastri wird bis einschließlich 2026 für das Traditionsteam aus Woking an den Start gehen.
Zum Schluss das Beste: Liam Lawson holte in seinem erst dritten Formel-1-Rennen die ersten Punkte! Als erster Fahrer in der Geschichte der Königsklasse übrigens in Singapur. Kein Rookie holte beim schwersten Grand Prix des Jahres seine ersten Zähler. Bis jetzt. Einmal mehr fuhr der junge Neuseeländer ein ruhiges Rennen, machte keine Fehler und wird mit diesen Leistungen sicher für etwas Kopfzerbrechen in der Red-Bull-Familie sorgen. Mit Yuki Tsunoda, Daniel Ricciardo und nun eben Liam Lawson haben Helmut Marko und Christian Horner definitiv die Qual der Wahl. Eigentlich undenkbar, dass Liam Lawson nach diesen Auftritten bisher nicht irgendwo ein Renn-Cockpit für 2024 finden sollte. Aber im Prinzip scheinen alle Türen zu. Wir werden sehen wie die Erfolgsgeschichte in diesem Fall weitergeht. Auch in Japan und vielleicht sogar in Katar wird der sympathische Lawson noch im Cockpit sitzen. Die Genesung von Daniel Ricciardo gestaltet sich offenbar komplizierter als angenommen…
Fazit
FazitTOP:
- Der Singapur-GP 2023 wird sicher in die Geschichte der Formel 1 eingehen. Es war ein spannendes und lange Zeit völlig offenes Wochenende mit einem fulminanten Finale im Rennen. Das ist Formel 1!
- Liam Lawson holt in seinem dritten Rennen bereits die ersten Punkte. Davor hat er sich überzeugend qualifiziert und ist unter schwersten Bedingungen erneut ein fehlerfreies Rennen gefahren. Überragend!
- Carlos Sainz war über das gesamte Wochenende der Mann der Stunde. Top konzentriert im Quali, ausgefuchst und unglaublich clever im Rennen. Ein völlig verdienter Sieg und das Ende der Red-Bull-Serie.
FLOP:
- Max Verstappen und Sergio Perez waren über das gesamte Wochenende im Nirgendwo. Erst am Sonntag erwachte der bis dato überragende RB19 einigermaßen zum Leben und die Piloten konnten ein paar Punkte retten.
- Fernando Alonso erlebte ein überaus schweres Rennen. Dazu der Crash von Lance Stroll am Samstag und sein Startverzicht für den Grand Prix. Aston Martin hatte schon bessere Rennen in diesem Jahr.
- George Russell lag wenige Runden vor Schluss auf sehr aussichtsreicher Position und machte in der letzten Runde einen Fehler. Statt einem Sieg oder zumindest einem Podium stehen null Punkte. Autsch!