imkreisfahren
Ein Blog rund um die Welt der Formel 1

Die große Expansion

Die Formel 1 erschließt laufend neue Märkte. Seit der Übernahme durch Liberty Media gefühlt schneller als je zuvor. Neue Grand Prix an aufregenden Orten sind das große Versprechen, ein immer größerer Kalender und Teams am absoluten Stresslimit sind eine Kehrseite. Von Rennen in Ländern mit fragwürdigen Gepflogenheiten beim Thema Menschenrechte ganz zu schweigen. Aktuell entfällt aus offensichtlichen Gründen der Russland-GP bis auf weiteres, mit Miami steht das zweite US-Rennen an, ein weiterer Grand Prix in Las Vegas stößt 2023 dazu. Man diskutiert über eine Rückkehr nach (Süd-)Afrika und ab kommendem Jahr ist auch Katar für zunächst zehn Jahre fest im Sattel. Wie viele Rennen im Jahr sind zu viele? Und welche Traditionsstrecken dürfen dem zweifelsohne winkenden Geld zum Opfer fallen? Ein kontroverses Thema, das ich in diesem Beitrag näher beleuchten möchte.

Las Vegas kehrt zurück

Als die Formel 1 am 31. März offiziell die Rückkehr eines Grand Prix in Las Vegas auf allen Kanälen kommunizierte, dachten nicht wenige an einen leicht verfrühten Aprilscherz. Viele Jahre wurde immer mal wieder über weitere US-Rennen spekuliert und die verschiedensten Orte waren im Gespräch. Ein Stadtrennen in New York, eine Rückkehr nach Indianapolis, Watkins Glen oder eben Las Vegas. Auch ein Rennen in Miami spukte immer wieder durch die Medien, bis sich alle Beteiligten tatsächlich einigen konnten. Anfang Mai 2022 steigt nun tatsächlich ein Rennen in Miami und ergänzt das Nordamerika-Programm der Formel 1, das mit Rennen in Kanada, Brasilien, Mexiko und natürlich in Austin, Texas bereits über zahlreiche Anlaufstationen verfügt. Der Markt sei aber groß genug, dass es nun also auch noch ein drittes Rennen in den USA braucht um das Interesse der Fans zu befriedigen. Der Netflix-Effekt und die Öffnung der Formel 1 gegenüber sozialen Medien in den Jahren seit der Liberty-Übernahme tragen Früchte.

Ein Pakt mit dem Teufel?

Da die Erweiterung des Rennkalenders sich natürlich nicht nur auf Nordamerika beschränkt, sondern auch verstärkt im nahen Osten stattfindet, steht die Formel 1 noch vor ganz anderen Problemen. Ganz frisch in Erinnerung ist allen Fans noch der Jeddah-GP vor wenigen Wochen. Am Freitag schlugen plötzlich Raketen in ein Öldepot des Hauptsponsors aramco ein und es brannte unweit der Strecke lichterloh. Tatsächlich befindet sich Saudi Arabien seit Jahren im Krieg mit einer Rebellengruppierung aus dem Jemen. Nach einigen Krisensitzungen und diversen Sicherheitsgarantien der Regierung ging das Rennwochenende schließlich wie geplant weiter und es ist glücklicherweise auch nichts passiert. Aber Zweifel und ein überaus flaues Gefühl im Magen bleiben natürlich.

Waren sich wirklich (wie nach außen kolportiert) alle einig, dass man das Rennen durchziehen sollte? Braucht es überhaupt Rennen in Ländern, die aktiv in Kriege verwickelt sind? Russland ist ja (völlig zurecht!) aus dem Kalender geflogen. Aber in vielen anderen Ländern mit fragwürdigen Ansichten zu Themen wie Gleichberechtigung, Menschenrechten und Meinungsfreiheit fährt die Formel 1 unbehelligt und macht sich potentiell des Sportwashings strafbar. Was das ist? Der von mir sehr geschätzte Youtuber/Journalist „der dunkle Parabelritter“ hat sich der Thematik kürzlich angenommen und als Aufhänger auch tatsächlich den Jeddah-GP gewählt. Seht euch das Video gerne hier an, ich kann es nur empfehlen:

Ein vielschichtiges und komplexes Thema, das man unmöglich schwarz/weiß betrachten kann. Nutzen vermeintliche „Schurkenstaaten“ den Glanz und die Aufmerksamkeit großer Sportevents um ihr Image nach außen reinzuwaschen? Natürlich, das ist keine Überraschung. Warum lässt sich die Formel 1 denn für solche Zwecke benutzen? Nunja, es fließt wirklich wirklich viel Geld und unser aller Lieblingssport ist nun mal auch Business. Macht es das besser? Natürlich nicht. Aber haben diese Länder nicht auch wirklich Chancen verdient positive Entwicklungen nach außen hin kommunizieren zu dürfen?

Die Formel 1 argumentiert ja gerne auch damit, dass sie ihren Beitrag zu Fortschritten in diversen Bereichen leisten will. Und tatsächlich wurden in Saudi Arabien etliche Gesetze geändert, um überhaupt einen Grand Prix durchführen zu können. Es sind also nicht ganz hohle Phrasen, ein bisschen was bewegt sich tatsächlich. Einige Fahrer starten ihre ganz eigenen Initiativen um auf Missstände hinzuweisen. Lewis Hamilton hat die Reichweite der F1 und seiner eigenen Person vielfach dazu genutzt um auf die „Black lives matter“-Bewegung aufmerksam zu machen. Sebastian Vettel hat in Saudi Arabien ein Kartrennen nur für Mädchen und junge Frauen organisiert und einigen ausgewählten Kandidatinnen den Rennsport direkt schmackhaft gemacht. Besonders pikant, da Frauen dort offiziell erst seit wenigen Jahren überhaupt den Führerschein machen dürfen. Unzählige in Regenbogenfarben lackierte Helme als Zeichen der Solidarität mit der LGBTQ-Bewegung sieht man quer durchs Fahrerlager immer mal wieder.

Die Formel 1 mag offiziell und nach außen hin unpolitisch und neutral sein, aber die Realität sieht anders aus. Zum Glück. Spitzensportler dürfen und sollen Farbe bekennen, nur so bewegt man schließlich etwas. Von dieser Warte aus finde ich es in der Tat in Ordnung, dass viele Rennen im nahen Osten stattfinden und in diesen Ländern den ein oder anderen Stein ins Rollen bringen.

Alte Welt, neue Welt, eine Welt?!

Dann wiederum erwische ich mich selbst dabei wie arrogant es doch eigentlich ist anderen Ländern vorschreiben zu wollen, dass sie doch bitte gefälligst unsere Werte und Normen teilen und übernehmen sollen. Natürlich sind Dinge wie Unterdrückung, Todesstrafe oder kriegerische Aktivitäten absolut unter aller Kanone und indiskutabel. Aber wer bin ich, wer sind wir als Europa, dass wir da eine globale Gleichschaltung in diesen und weiteren Fragen forcieren wollen? Das sind alles Prozesse, die eine gewisse Zeit benötigen, mutige Personen und einschneidende Ereignisse, um sich zu manifestieren. Auch in der westlichen Welt waren all die genannten No-Gos vor nicht allzu langer Zeit noch Alltag. Und in vielen Köpfen sind sie es heute noch. Den moralischen Zeigefinger sollten wir daher vielleicht nicht so eifrig schwingen, wie wir es instinktiv oft tun. Vorbild sein, Wege aufzeigen und immer im Diskurs bleiben scheinen mir da die erfolgversprechenden Maßnahmen zu sein. Aber das ist natürlich nur eine persönliche Meinung.

Zurück zum Sport also. Wir haben nun viel über den nahen Osten gesprochen, aber tatsächlich ist die Formel 1 noch in vielen anderen Regionen unterwegs, die grundsätzlich nicht unbedingt all unsere Werte teilen. Ein Blick auf die Rennkalender der jüngeren Vergangenheit macht das deutlich. Wir hatten und haben beispielsweise Rennen in Aserbeidschan, China, Katar, der Türkei, Bahrain, Russland, Abu Dhabi und eben Saudi Arabien. Das macht über den Daumen gepeilt jeweils ein Drittel der Saison aus. Diese finanziell attraktiven, anderweitig aber nicht unumstrittenen Rennveranstaltungen werfen, neben den genannten moralischen Schwierigkeiten, auch noch andere Probleme auf.

Adios Europa?

Eines dieser Probleme, das gerade eingefleischten Fans und Enthusiasten immer wieder quer liegt, ist der Verlust traditionsreicher Rennen, vor allem in Europa. Hier hat die Formel 1 ihre Wurzeln und auch wenn es natürlich ausdrücklich eine WELTmeisterschaft ist, finden seit jeher die meisten Rennen auf dem alten Kontinent statt. Allerdings haben seit vielen Jahren die hiesigen Promoter immer größere Schwierigkeiten finanziell mit den Angeboten aus dem nahen Osten und anderen Teilen der Welt mitzuhalten. Ein besonders trauriges Kapitel ist für uns Deutsche Fans natürlich das Dilemma um die Rennen in Hockenheim und auf dem Nürburgring. Sportlich immer ein Highlight, waren die Veranstaltungen in jüngerer Vergangenheit finanziell immer mehr oder weniger große Katastrophen. Und zwar sowohl für die Organisatoren in Deutschland, als auch für die Formel 1 als Ganzes. Die Antrittsgelder, die bezahlten werden (können), um einen Deutschland-GP auf dem Hockenheimring auszutragen, sind signifikant geringer als die Summen, die Länder wie Katar oder Abu Dhabi in den Ring werfen um den F1-Zirkus anzulocken. So steht die F1-Organisation vor der schwierigen Gratwanderung einerseits genug Umsätze und Wachstum für die Aktionäre und die teilnehmenden Teams zu generieren, andererseits möglichst viele Traditionalisten und langjährige Fans bei der Stange zu halten. Und über allem schwebt noch das bereits beschriebene, moralische Dilemma.

Wie wächst der Rennkalender denn nun? Wir wissen, dass in absehbarer Zeit ein Rennen in Las Vegas dazukommt, Katar ist ab 2023 fest dabei und in Südafrika gehen die Verhandlungen offenbar auch in eine gute Richtung. Derzeit darf laut der eigenen Statuten eine Saison aber maximal 24 Rennen umfassen. Mehr zu dieser Zahl gleich noch. Es wird klar: einige Rennen werden rausfallen, anders lässt sich das Problem nicht lösen. Aber welche? Der Frankreich-GP scheint nicht besonders erfolgreich zu laufen. Spa Francorchamps wehrt sich mit umfassenden Umbaumaßnahmen gegen einen drohenden Exodus. Sogar die „heilige Kuh“ Monaco scheint in diesen Zeiten nicht mehr unantastbar. Auch zwei Grundpfeiler einer jeden Formel-1-Saison seit Gründung der Rennserie, ich spreche von Monza und Silverstone, haben in jüngerer Vergangenheit hart um einen Verbleib im Kalender kämpfen müssen. Zwar hat F1-Chef Stefano Domenicali grundsätzlich verkündet, dass man bemüht sei eine gute Balance aus Traditionsrennen und neuen Austragungsorten zu finden. Wie diese letztendlich aussieht ist ungewiss. Wir werden in den kommenden Jahren sehen wohin die Reise geht.

Die Grenzen der Belastung

Kommen wir schließlich zum eigentlich wichtigsten Faktor in dieser Gleichung: dem Menschen. Mehr Rennen bedeuten für alle involvierten Personen auch mehr Stress. Mehr Reisen. Mehr Arbeit. Mehr Nachtschichten für die Mechaniker an der Strecke. Mehr komplizierte Planungsarbeit für Logistiker. Mehr physische und psychische Belastungen für die Fahrer, Strategen und Rennleiter. Für Boxencrews und Teamchefs. Gleichzeitig auch weniger Zeit zum Erholen, weniger Zeit mit der eigenen Familie, mit Freunden und somit weniger kostbare Lebenszeit.

„Wenn der Kalender noch weiter wächst, werde ich das definitiv nicht mitmachen“

Sergio Perez

Das mag alles klingen wie Meckern auf hohem Niveau, aber all das sind Signale, die von Mitgliedern aller Teams ausgesendet werden. Das Limit sei erreicht und mehr Rennen sind einfach nicht mehr sinnvoll darstellbar. Sergio Perez ließ kürzlich in einem Interview verlauten er würde der Formel 1 den Rücken kehren, sollten künftig noch mehr Rennen pro Jahr angesetzt werden als derzeit. Diverse Angestellte haben in den letzten Jahren aus freien Stücken oder aus gesundheitlichen Gründen, wie etwa Burnout, bereits den Formel-1-Zirkus verlassen. Das Problem ist also absolut real und muss ernst genommen werden.

Ist Wachstum so einen hohen Preis wirklich wert? Und wollen die Fans das überhaupt? Als ich Anfang der 1990er Jahre begonnen habe die Formel 1 aktiv zu verfolgen, waren 16 Rennen die Regel. Selbst 2007 erstreckte sich die WM noch über 17 Läufe. Welche Fans haben denn lautstark für mehr Rennen plädiert? Mir fällt keiner ein. Diese große Expansion fußt doch vornehmlich auf dem Streben nach mehr Präsenz und mehr Profit und Wachstum. Die Verantwortlichen müssen aber sehr sorgfältig vorgehen um nicht den Fokus zu verlieren. Der Spagat, den sie da vollführen wollen, ist ziemlich gewagt: Neue, attraktive Märkte erschließen. Alten und neuen Fans gleichermaßen gerecht werden. Keine Übersättigung des Marktes riskieren. Neue Austragungsorte moralisch und politisch behutsam auswählen. Traditionsrennen erhalten. Die Liste der Anforderungen ließe sich noch etwas weiter führen. Hoffen wir, dass dieser Spagat gelingt und der Formel 1 insgesamt rosige Zeiten bevorstehen. Und dass dabei möglichst wenige Menschen über die Klinge springen. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Cookie-Einstellungen