Der Startschuss zur Saison Formel-1-Saison 2022 fällt am kommenden Wochenende in Bahrain. Ein geeigneter Zeitpunkt also für Prognosen und einen kleinen Rückblick auf die Testfahrten. Wer hat sich in guter Frühform präsentiert? Wo gibt es noch Fragezeichen oder handfeste Probleme? Und welche Teams gehen als Favoriten in den ersten Grand Prix des Jahres? Auf diese Fragen versuche ich in diesem Beitrag Antworten zu finden und blicke dabei auf sieben Dinge, die wir bei den Tests in Barcelona und Bahrain gelernt haben.
1. Bouncing
Das bestimmende Stichwort bei fast allen Teams lautete „Bouncing“. Oder auch, von den Britischen Kollegen liebevoll nach einem delfinartigen Tier, „Porpoising“ genannt. Beide Vokabeln beschreiben letztendlich das gleiche Phänomen. Da der Abtrieb bei Autos der neuen Generation zu einem signifikanten Teil durch zwei Tunnel unter dem Auto generiert wird (Ground Effect), stellt sich vor allem bei hohen Geschwindigkeiten auf Geraden eine Art Schwingbewegung oder ein „Hüpfen“ ein. Der Anpressdruck saugt das Auto dabei regelrecht an den Asphalt, so weit, dass der Unterboden aufsetzt. Dadurch reißt der Anpressdruck schlagartig ab und das Fahrzeug hüpft ruckartig von der Fahrbahnoberfläche auf nur um gleich wieder aufzusetzen. Je nach Frequenz führt diese Schwingbewegung sogar dazu, dass Unterböden, Getriebe und andere Teile den Geist aufgeben. Von einem sehr unangenehmen Gefühl für die Fahrer ganz zu schweigen.
Teams wie Mercedes oder Alfa Romeo waren vom Bouncing mehr betroffen, McLaren zum Beispiel so gut wie gar nicht. Der Schlüssel zum Erfolg wird, vor allem in den ersten Rennen, darin liegen diesen Effekt möglichst unter Kontrolle zu bekommen ohne dabei zu viel Leistung einzubüßen. Wer hier den besten Kompromiss findet, wird auch vorne liegen. Dieses Thema wird uns auf jeden Fall noch eine Weile beschäftigen. Hier ein Video der Kollegen von WTF1, das besagten Effekt anschaulich (auf Englisch) erklärt:
2. Die neue Generation ist schnell
Als das neue Reglement vor einigen Jahren präsentiert wurde, gab es hier und da besorgte Stimmen, die kritisierten, dass es mit den Regeln zu einer Einheitsformel kommen würde und die Autos signifikant langsamer würden. Bis zu 5 Sekunden Performanceverlust sahen da einige Pessimisten auf uns zukommen, einer Königsklasse nicht würdig. Nach den Testfahrten können wir getrost aufatmen: Die neue Fahrzeug-Generation ist weiterhin sehr schnell. Bereits zu Beginn des Entwicklungszyklus fehlen den neuen Autos, je nach Kalkulationsgrundlage, lediglich etwa eine bis drei Sekunden auf die Vorjahresrenner. Das ist überschaubar und wird im Laufe der Zeit sicher noch weniger werden. Bisher leiden die Boliden eher in langsamen Kurven, was mit dem neuen Abtriebskonzept und den damit verbundenen Fahrwerkseinstellungen zusammenhängt. Mal sehen ob wir nicht in einigen Monaten sogar die schnellsten Formel-1-Renner aller Zeiten um die Kurse flitzen sehen.
3. Individuelle Lösungen
Die Ingenieure aller zehn Teams haben es geschafft die neuen Regeln sehr unterschiedlich zu interpretieren. Wir sehen eine große Vielfalt bei Seitenkästen, Flügelanordnungen und auch komplett verschiedene Aufhängungskonzepte. Es wird sehr spannend sein zu beobachten welche Ideen und Konzepte sich auf Dauer als schnell erweisen, aber auch genügend Entwicklungspotential bieten. Dem Kostendeckel und limitierten Windkanaltests zum Trotz kann man davon ausgehen, dass wir ein hohes Entwicklungstempo sehen werden, aber nicht jeder Schuss wird auch sitzen. Die großen Teams können einfach nicht mehr bis zum Umfallen Teile bauen und ausprobieren, es zählt wieder Ingenieursgeist und die besten Ideen werden belohnt. So weit jedenfalls die Theorie. Wie sich das Reglement aufs Entwicklungsrennen auswirkt müssen wir also abwarten. Ebenso fraglich wie viele individuelle Lösungen wir auch am Jahresende noch an den Autos sehen werden. Für die ersten Saisonrennen haben wir aber ein selten diverses Starterfeld und das ist für jeden Fan des Sports eine super Sache.
4. Ferrari ist wieder da
Ja ja ja, ich weiß. Diese Aussage hätten man auch nach den Testfahrten 2017 oder 2018 treffen können, als die Scuderia wirklich auf Augenhöhe mit der Spitze schien. Aus diversen Gründen ging es dann aber im Verlauf der Saison stets bergab und am Ende war erneut Mercedes der strahlende Sieger. Aber es gibt gute Gründe, warum sich Fans der Italienischen Nationalmannschaft dieses Jahr Hoffnungen auf einen Titelkampf machen können.
Zunächst ist der F1-75 ein sehr innovatives Auto mit einem eigenen Konzept, das sich deutlich von der Konkurrenz unterscheidet. Klar, alle haben mit einem weißen Blatt begonnen und es gibt noch keine erfolgreichen Trends, denen man nachlaufen müsste. Was im Umkehrschluss aber auch heißen kann, dass gerade Ferrari ein guter Wurf gelungen ist, an dem sich die Konkurrenz orientieren muss.
Dafür spricht die überzeugende Vorstellung bei den Testfahrten. Der rote Renner lief stets wie ein Uhrwerk und hat (neben Mercedes) die mit Abstand meisten Testkilometer zurückgelegt. Ohne nennenswerte Probleme. Zudem schien der Wagen auf allen Reifentypen relativ mühelos bei der Musik, ohne durch Fabelzeiten unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Italienisches Understatement, wenn man denn so möchte.
Als letztes Argument, warum Ferrari heuer im Titelkampf ein Wörtchen mitreden wird, sei der Umgang mit dem vorher erwähnten Bouncing angeführt. Beim Barcelona-Test war das Problem am F1-75 teilweise recht prominent zu sehen, Aufnahmen von Charles Leclerc machten auf Social Media die Runde. Aber die Mannschaft hat das Problem schnell und erfolgreich in den Griff bekommen. Offenbar ohne allzu viel Performance zu verlieren, das ist der Schlüssel. Man munkelt, dass kein anderes Team an der Hinterachse so weiche Federn fahren kann wie Ferrari. Das hilft offenbar beim Bouncing und es hilft in langsamen Kurven. Da war der F1-75 immer vorne mit dabei.
Der Ferrari mag vielleicht (noch) nicht das insgesamt schnellste Auto der aktuellen Generation zu sein, aber die hohe Zuverlässigkeit gepaart mit einem guten Umgang mit dem Bouncing-Problem und nicht zuletzt zwei jungen und hungrigen Fahrern – es könnte gerade im ersten Saisondrittel eine sehr erfolgreiche Kombination sein.
5. Mächtiger McLaren
Einen hervorragenden Eindruck hinterließ der neue McLaren beim ersten Test in Barcelona. Nicht nur wegen der Tagesbestzeit von Lando Norris. Vor allem schien der MCL36 beinahe resistent gegen das Bouncing zu sein, das den meisten anderen Teams zusetzte. Entsprechend unbeeindruckt und weitgehend problemfrei zogen die Fahrer in Spanien ihre Bahnen und lernten den neuen Renner kennen. Beim zweiten Test in Bahrain lief es dann aber leider nicht mehr so gut. Probleme mit den Bremsen machten dem Team zu schaffen und schränkten das Fahrpensum ein. An Longruns war nicht zu denken und so muss man davon ausgehen, dass McLaren ein bisschen Entwicklung und Setuparbeit wird aufholen müssen um sein Potential voll auszuschöpfen. Zudem fiel Daniel Ricciardo krankheitsbedingt aus und verpasste den kompletten zweiten Test. Das resultiert insgesamt natürlich in einer suboptimalen Vorbereitung. Dennoch hat der Wagen viel Potential und ich sehe McLaren durchaus weit vorne – sofern die Zuverlässigkeit stimmt.
6. Die Mercedes-Wundertüte
Wer acht mal hintereinander die Konstrukteurs-WM gewinnt, geht zwangsläufig als Favorit in eine neue Saison. Da können Fahrer und Teamleitung so viel relativieren und die Konkurrenz stark reden wie sie wollen. Jeder blickt darauf, wie die Meistermannschaft die neuen Regeln interpretiert und mit welchen Lösungen sie auf die Strecke geht. Hatte der W13 bereits beim ersten Test in Barcelona sehr kleine Seitenkästen, so brachte das große Bahrain-Upgrade einen richtigen Schocker zum Vorschein. Die Sidepods waren beinahe vollständig verschwunden und der Wagen kam ultraschlank daher. Inklusive einer kontroversen Lösung im Bereich der Rückspiegel, die sicher noch Gegenstand diverser Diskussionen wird. Ein wahnsinnig innovatives und extremes Auto also. Aber bis dato noch nicht auffällig schnell. Davon lässt sich das Team aber nicht aus der Ruhe bringen und auch sonst kauft niemand im Fahrerlager der Mannschaft ab, dass man große Sorgen um die eigene Pace hat. Zugegeben: Das Bouncing beschäftigt den W13 mehr als viele andere Autos. Aber man muss davon ausgehen, dass die Ingenieure dort einen Kompromiss und eine Lösung finden werden. Wie viel Rundenzeit dann freigesetzt werden kann, vermag niemand abzusehen. Ich gehe aber stark davon aus, dass man auch 2022 wieder fest mit Mercedes rechnen muss. Wer würde das auch ernsthaft anzweifeln?
7. Geringe Abstände
Aus Sicht eines Fans vielleicht die beste Erkenntnis aus den Testfahrten: Die Autos scheinen alle nah beisammen zu liegen. Trotz der zehn grundverschiedenen Konzepte produzieren die Autos alle sehr ähnliche Rundenzeiten. Eigentlich hat es jedes Team geschafft an irgendeinem Tag relativ weit vorne bei der Musik zu sein. Sogar die Haas tauchten in Bahrain unter den Top 3 auf. Aber auch Alfa Romeo, Williams und alle Mittelfeldteams schafften respektable Zeiten. Natürlich weiß man nie so recht mit welchen Spritmengen und Motoreneinstellungen da hantiert wird, aber es sieht wirklich spannend aus.
Fast noch erfreulicher ist, dass das Hauptanliegen der Regelhüter offenbar erfüllt wird: Die Fahrer haben signifikant weniger Probleme dabei ihrem Vordermann zu folgen. Die Probleme mit Abtriebsverlust beim Hinterherfahren scheinen viel geringer zu sein, was theoretisch auch zu besserem Racing führen sollte. Auch auf der Strecke und im Zweikampf sollten uns geringere Abstände erwarten, im wahrsten Sinne des Wortes. Das sind super Aussichten für eine spannende Saison 2022!
Die Reihenfolge vor Bahrain:
Die Hinterbänkler
Den Kampf um die rote Laterne liefern sich, meiner Meinung nach, zu Saisonbeginn vor allem Alfa Romeo, Williams und Haas. Wobei viele Experten den Haas sehr stark sehen und teilweise sogar locker im Mittelfeld verorten. Mag sein, dass das rein von der Geschwindigkeit her auch so ist, aber das Team hatte keine reibungslose Vorbereitung. Spontan sitzt noch Kevin Magnussen im zweiten Cockpit und auch sonst waren es keine ruhigen Wochen für Günther Steiner und seine Mannschaft. Williams und Alfa Romeo hatten auch so ihre Probleme und Kinderkrankheiten, die es noch auszuräumen gilt. Inwiefern diese Teams ihr Auto schon umfassend verstehen und das Maximum rausholen können ist ungewiss, ich habe so meine Zweifel. Bei Alfa Romeo kommt noch dazu, dass beide Fahrer neu sind. Valtteri Bottas wird sich erstmal orientieren müssen. Im neuen Team wie auch im hinteren Ende des Feldes. Rookie Zhou wird ebenfalls ein bisschen Eingewöhnungszeit brauchen.
Das AAA-Mittelfeld
Im Niemansland des Feldes sehe ich im Augenblick die Mannschaften Alpine, Alpha Tauri und Aston Martin. Ich denke diese drei Teams werden in den ersten Rennen um die letzten Punkte kämpfen und versuchen den Anschluss an die Top Teams zu finden. Auf der Habenseite steht bei allen dreien, dass sie mit einer gewohnten Fahrerpaarung an den Start gehen, im Falle von Alpine und Aston Martin sogar mit sehr erfahrenen Piloten (Alonso und Vettel). Das könnte im Umgang, dem Verständnis und der Entwicklung einer neuen Fahrzeuggeneration Gold wert sein. Status Quo ist aber, dass diese beiden Teams bei den Testfahrten äußerst blass geblieben sind. Dabei wirkten beide Mannschaften aber demonstrativ ruhig, es könnte also noch einiges drin stecken, man darf gespannt sein. Alpha Tauri sollte dieses Mittelfeld anführen, sie sahen beim Test sehr solide aus. Zudem halte ich große Stücke auf Pierre Gasly, der letztes Jahr oft sehr viel mehr aus dem Auto geholt hat, als eigentlich drin war. Wenn ihm Ähnliches wieder gelingt, dann gibt es konstant Punkte. Zudem wird Yuki Tsunoda auch wesentlich konstanter und besser performen als noch in seiner Rookie-Saison.
Ein Quartett an der Spitze
Einen heißen Kampf am vorderen Ende des Feldes liefern sich Ferrari, Red Bull, McLaren und Mercedes. Bei allen Teams sehe ich Potential für Podiumsplätze und auch einen erfolgreichen Titelkampf. Red Bull scheint aktuell ein bisschen vorne zu liegen. Sehr zuverlässig, immer schnell und mit einem entspannten Weltmeister im Cockpit, liefen die Testfahrten insgesamt reibungslos und das Team wirkt bestens vorbereitet. Zu den übrigen drei Teams habe ich weiter oben schon viele Worte verloren. Wenn McLaren die Zuverlässigkeit im Griff hat, werden sie vorne dabei sein. Vor allem in den ersten Rennen, wo ich Mercedes vielleicht noch am ehesten etwas verwundbar sehe. Ferrari wird immer ein Kandidat aufs Podium sein, so gut wie der Wagen bei den Testfahrten lief. Und sobald Mercedes die Bouncing-Probleme im Griff hat, geht auch da die Performance-Post ab.
Im Idealfall erleben wir einen engen Vierkampf um den Titel. Je nach dem wie unterschiedlich die jeweiligen Konzepte zur Streckencharakteristik passen, wie das Entwicklungsrennen verläuft und wie kugelsicher die Technik ist. Es könnte eine grandios spannende Saison werden, vielleicht eine wie 2010, wer weiß. Die Vorfreude bei mir ist jedenfalls unfassbar groß, packen wir es an!